Donnerstag, 15. Oktober 2009

Offener Brief des Ortsvereins an Thilo Sarrazin

Offenbach am Main, 15.10.2009

SPD-Ortsverein Offenbach-Innenstadt:

Offener Brief an Thilo Sarrazin zu seinem Interview „Klasse statt Masse“ im Lettre International


Lieber Genosse Thilo Sarrazin,


als SPD-Ortsverein distanzieren wir uns von Deinen Äußerungen im Interview mit der Lettre International und kritisieren sie scharf.

In Offenbach haben zirka 50% der Bevölkerung einen Migrationshintergrund. Auch in unserem Ortsverein gibt es viele Sozialdemokraten, die eine ausländische Herkunft haben oder sozial benachteiligte Gruppen repräsentieren. Einigen davon fällt es angesichts Deiner teilweise unsachlichen und durchaus rassistischen Wortwahl mittlerweile schwer, Mitglied der gleichen Partei wie Du, Thilo Sarrazin, zu sein.

In Deinem Interview bewertest Du Menschen nach ihrer Herkunft, teilst sie ein in „gute Ausländer“ und „schlechte Ausländer“. Für Dich zählt allein die „produktive Funktion“ eines Menschen. Du schreibst: "Ich würde einen völlig anderen Ton anschlagen und sagen: Jeder, der bei uns etwas kann und anstrebt, ist willkommen; der Rest sollte woanders hingehen." Für Dich sind „Obst- und Gemüsehändler“ scheinbar nicht viel wert, ebenso wenig wie der „Teil der deutschen Unterschicht, die einmal in subventionierten Betrieben Spulen gedreht oder Zigarettenmaschinen bedient hat“. Du sagst, solche Menschen müssten sich „auswachsen“ aus einer Stadt. Das ist rassistisch.

Wir meinen: Für eine Stadt zählt nicht nur die wirtschaftliche Produktivität, sondern ganz besonders die Lebensqualität. Diese wird in Offenbach unter anderem durch ein kreatives und kulturelles Umfeld erreicht – und dies ergibt sich nicht zuletzt aus der Multikulturalität der Stadt. Offenbach ist liebens- und sehr lebenswert – trotz Finanzprobleme und gerade aufgrund der vielen Bevölkerungshintergründe- und schichten. Eine Stadt kann an ihrer Multikulturalität wachsen, wenn die Integration gelingt. Und im Gegensatz zu Dir sind wir der Meinung, dass sie gelingen kann.

Es ist falsch, die Integrationsbemühungen einer Stadt aufzugeben – so wie Du Berlin aufgibst. Nein, es ist sehr viel möglich – auch wenn dies in vielen kleinen Schritten und Projekten geschieht. Wie Du sind wir der Meinung, dass das Erlernen der deutschen Sprache äußerst wichtig für eine funktionierende Integration ist. In Offenbach hat die SPD durchgesetzt, dass flächendeckend „Mama lernt deutsch Kurse“ eingeführt werden. Diese Integrationskurse, bei denen Frauen erste deutsche Sprachkenntnisse erwerben können, finden an Grundschulen statt. Beim ersten Kurs kamen zunächst 10 Frauen, das Angebot sprach sich schnell herum, nach nur drei Wochen standen 60 Frauen auf der Warteliste. Dieses Beispiel zeigt: Die Frauen (übrigens fast alle mit Kopftuch) wollen sich integrieren, bisher war aber vielleicht die Schwelle des Gangs zu einer Volkshochschule noch einen Schritt zu viel. Die Grundschulen kennen sie dagegen, sie bringen ja jeden morgen ihre Kinder dorthin. Und noch eines: Die „Mehrheitsgesellschaft“ hat es zwei Generationen lang sträflich vernachlässigt, eine konsequente und leistungsfähige Integrationspolitik zu betreiben. Die Folgen dieses Versäumnisses können nicht von heute auf morgen korrigiert werden. Vor allem aber können sie auf keinen Fall unseren Mitbürgern mit sogenanntem Migrationshintergrund alleine zugerechnet werden.

Du schreibst „Integration ist eine Leistung dessen, der sich integriert“. Wir glauben, dass es für eine erfolgreiche Integration auf viele Seiten ankommt. Integration ist für uns auch eine Leistung derer, die Integration zulassen. Wir haben in Offenbach in Sachen Integration schon viel geschafft, aber auch noch einiges zu tun. Eines steht für uns aber fest: Aufgeben werden wir nicht.

Wir sind besonders verärgert über die von Dir verwendete Sprache. Du schreibst, man müsse aufhören, von “den Migranten“ zu reden. Da geben wir Dir recht. Aber gleich im Anschluss sagst Du über „die Vietnamesen“: „Die Eltern können kaum Deutsch, verkaufen Zigaretten oder haben einen Kiosk“. Eine solche Argumentation im Jargon primitivster Klischees, schürt Vorurteile in unserer Gesellschaft und verhindert Integration. Es gibt weder „die Vietnamesen“, noch „die Türken“ oder „die Araber“ noch „die Deutschen“. Scharf verurteilen wir auch Deine abfälligen Bezeichnungen, wenn Du über „Türken und Araber“ sprichst. Unwörter wie „Clan“, „Sippe“, „Kopftuchmädchen“ und „Araberfrau“ gehören für uns nicht zu dem Wortschatz eines Intellektuellen, für den Du Dich ohne Zweifel hältst. Eine solche Sprache provoziert und trennt, schafft jedoch niemals die Voraussetzungen für den notwendigen ergebnisorientierten Dialog.

Nahe an der Grenze des Ertragbaren ist zudem Deine Meinung von Menschen aus sozial benachteiligten Milieus. Du sagst: „Wir haben in Berlin vierzig Prozent Unterschichtgeburten, und die füllen die Schulen und Klassen, darunter viele Kinder von Alleinerziehenden“. Dabei sind Alleinerziehende nur eine Gruppe, die Du pauschal in eine Unterschichtenschublade steckst.

Auch in Offenbach sind Arbeitsplätze für niedrig qualifizierte Arbeiternehmer weggebrochen, auch hier gibt es eine hohe Arbeitslosenquote und viele Sozialhilfeempfänger. Aber wir glauben nicht, dass diese Menschen weniger Wert sind als andere. Wir arbeiten weiter an Konzepten, wie wir diesen Menschen helfen können, wieder eine Arbeitsstelle zu bekommen.

Du bist wahrscheinlich stolz darauf, dass Dir nachgesagt wird, immer „Klartext“ zu reden. Aber für das gesprochene Wort gilt doch zweifellos auch: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Du selbst sagst, Du würdest Berlin mit einem „scharfen Auge“ betrachten, weil Du die Stadt angeblich so liebst. Wir sagen Dir, Du richtest mit Deinen Äußerungen großen Schaden an. Wir bitten Dich, Dich auf eine sachliche und respektvolle Sprache zu besinnen. Dann können wir ernsthaft, konstruktiv und produktiv über Migration und Integration in diesem Einwanderungsland Deutschland miteinander diskutieren. Für einen solchen Dialog stehen wir gerne zur Verfügung.



Mit freundlichen Grüßen,

der SPD-Ortsverein Offenbach-Innenstadt